9 February 2019 – 13 April 2019
[…] [Ü]ber nunmehr drei Generationen hinweg haben Künstler wie Iole de Freitas, Waltercio Caldas, Carla Guagliardi und Carlos Bevilacqua eine Kunst geschaffen, die jenseits der einschlägigen Brasilien-Klischees kühl, entspannt und erfindungsreich ein Thema artikuliert, das bei ihren westlichen Kollegen bis heute eher den horror vacui hervorruft: die Offenheit des Raumes. Während Gullar noch den Unterschied zwischen Objekt und Nicht-Objekt diskutierte, formulieren diese Künstler den realen Raum als einen Ort, wo sich die Entgegensetzung von Subjekt und Objekt aufhebt, die Unterscheidung von Form und Materie ihre Brauchbarkeit verliert und das Konzept der Partizipation obsolet wird, weil es ipso facto erfüllt ist. […]
Diese Emanzipation des Materials könnte indes immer noch im Sinne der Parolen des Arts and Crafts Movement oder des Deutschen Werkbundes – „Truth to Materials“ bzw. „Materialgerechtigkeit“ – verstanden werden. Die späten Arbeiten Hélio Oiticicas, wie zum Beispiel die Installation The Eden Plan in der Londoner Whitechapel Gallery (1969), machen jedoch deutlich, dass die un-metaphysische Auffassung der Brasilianer nicht auf eine quasi-substantielle Rehabilitierung des Materials zielt. Die Vorstellung eines auf die Form bezogenen materiellen Substrats wird vielmehr aufgegeben zugunsten der konkreten Dinglichkeit der verwendeten Elemente. Carla Guagliardi entwickelt ihre Arbeiten nicht aufgrund der Eignung bestimmter Materialien, sondern umgekehrt: Sie bezieht vorgefundene Teile – Röhren, Stangen, Spanngummis, Schlaufen, Ballons u. a. – so aufeinander, dass deren materielle und formale Eigenschaften gleichberechtigt hervortreten können und miteinander ein vorübergehendes Spannungsgleichgewicht bilden. In Verso (2007) fungieren fünf weiße Luftballons als Tragekissen für fünf lange, von außen auf sie gelegte Holzplanken. […]
Wo immer dieses Ensemble ausgestellt wird, berührt es den Betrachter unmittelbar als eine Manifestation des größeren, instabilen, nur zeitweilig ausgeglichenen Energiefeldes, in dem sich alles Dasein bewegt.[1]
Für die erste Einzelausstellung im kajetan Berlin ‒ Raum für Kunst hat Carla Guagliardi eine Installation mit dem Titel Conversa com a parede / Gespräch mit der Wand entwickelt. Robert Kudielka hat die Arbeit von Carla Guagliardi in den Kontext der brasilianischen Kunst gestellt, die aus der Bewegung des Neoconcretismo hervorgegangen ist. Diese Beobachtung gibt einen Einblick in den Zusammenhalt des Œuvres, das die Künstlerin seit über 20 Jahren kontinuierlich entwirft.
Die Installation Conversa com a parede / Gespräch mit der Wand verwendet Materialien und Konzepte, mit denen die Künstlerin aus ihren früheren Arbeiten vertraut ist. Ein einzelner roter elastischer Faden läuft durch die Wand, ist durch Kupferrohre gefädelt nur teilweise sichtbar. In seiner intermittierenden Wahrnehmung seiner Materialität und der Spannung, die er erzeugt, hält er verschiedene Holzstücke durch Druck an der Wand. Die unterschiedlichen Formen und Positionen dieser Stücke suchen nach Stabilität in einem komplexen Verhältnis von Abhängigkeiten. Ein jedes spielt eine entscheidende Rolle, um das Ganze im Gleichgewicht zu halten, und erweckt ein seltsames Gefühl der Verwundbarkeit ‒ ein Konzept, das für die Arbeit der Künstlerin wesentlich ist. In der Beschreibung der Materialien, die in den meisten ihrer Arbeiten verwendet werden, listet die Künstlerin Zeit auf. Die Dauer erscheint somit als ein Element, das den Prozess und die Gefährdung, ein prekäres Gleichgewicht im Feld von Interdependenzen bestimmt.
Die teilweise fixierte Anordnung einer Skulptur, eines Objekts, wie Guagliardis der Schwerkraft trotzende Arbeit Partitura VI (horizontal), die ebenfalls in der Ausstellung gezeigt wird, bestätigt die Fokussierung der Künstlerin auf eine Auseinandersetzung mit dem Unbestimmten. In diesem Objekt sind sieben weiße Schaumstoffkugeln unterschiedlicher Größe und sieben leichte Holzbretter in einer scheinbar chaotischen Abfolge von Druck und Gleichgewicht angeordnet. Die Bretter sind mit filigranen Metallscharnieren an der Wand befestigt und folgen einem rhythmischen Muster, das durch die Position der Kugeln bestimmt wird. Die Entscheidungen, die sich aus der Position jedes Balles ergeben, bestimmen das Gleichgewicht des Stücks als Ganzes und bieten uns ein zusammenhängen-des System dar, das die Summe der Spannungen in eine dissonante Harmonie übersetzt.
Mais do que cheia / Mehr als voll, Guagliardis Glasobjekt, eine weitere Arbeit der Ausstellung, enthält unsichtbare Luft in ihrem gläsern-transparenten Innenraum als eines ihrer Bestandteile. Das hier von der Künstlerin hervorgehobene Thema bezieht sich auf die erweiterte Sichtbarkeit der einzigen Öffnung dieses Glaskörpers, die ein roter Latexballon schließt. In dieser Werkserie setzt die Künstlerin das Material Glas als Behälter wieder ein, das in ihren früheren Arbeiten mit Wasser gefüllt wurde. Das Objekt erfüllt somit den bedenkenswerten Einwurf, dass ein leeres Glas voller Luft ist.
Durch die Verwendung gasförmiger, flüssiger und fester Substanzen ‒ einschließlich der Zwischenräume und vorgegebener, raumbildender Grenzen ‒ ermutigen Guagliardis dynamische Objekte dazu, um ein einzigartiges Gleichgewicht zu erreichen, unsere eigenen Grenzen zu überschreiten und zu erweitern.
[1] Robert Kudielka: Vom „Nicht-Objekt“ zur Poetik realer Räume. Brasilianische Kunst nach dem Neokonkretismus, in: Das Verlangen nach Form, Akademie der Künste Berlin, S. 26-32, S. 29-31.
[…] [O]ver the past three generations, artists such as Iole de Freitas, Waltercio Caldas, Carla Guagliardi, and Carlos Bevilacqua have created an art that employs a cool, relaxed and inventive language, transcending the familiar Brazilian clichés to explore and articulate the openness of space – a theme that evokes a feeling of horror vacui for Western artists to this day. While Gullar was still discussing the difference between the object and the non-object, the latter group of artists was postulating actual space as a site where the opposition between subject and object is overcome; where the distinction between form and matter loses its relevance; and where the concept of participation is rendered obsolete, because it has been realized ipso facto.[…]
This emancipation of material might still be understood with reference to the tenets of the Arts and Crafts Movement or the Deutscher Werkbund – „Truth to Materials“ or „Materialgerechtigkeit“. However, Hélio Oiticica’s late works, such as the installation The Eden Plan in the Whitechapel Gallery in London (1969), made it clear that the non-metaphysical understanding of the Brazilians was not aimed at some type of substantial rehabilitation of the material. Rather, they abandoned the idea of a material substrate correlated with form, in favor of the concrete thingness of the elements used. Carla Guagliardi does not conceptualize her works based on the suitability of certain materials, but does the opposite. She sets the things she employs – pipes, bars, elastic bands, loops, balloons, etc. – in relationship to each other in such a way that their various material and formal qualities emerge on equal footing and create a temporarily balanced field of tension. In Verso (2007), five white balloons serve as pillows supporting five long wooden planks laid atop them.[…]
Wherever this ensemble is exhibited, it affects viewers directly as a manifestation of the larger, unstable, and only temporarily balanced energy field in which everything in existence moves and circulates.[1]
For the first individual exhibition held at the kajetan Berlin ‒ Raum für Kunst, Carla Guagliardi has developed an installation titled: Conversa com a parede / Gespräch mit der Wand. Robert Kudielka has situated the work of Carla Guagliardi in the context of Brazilian art emerging from the movement of the Neoconcretismo. This observation provides an insight into the cohesiveness of the œuvre the artist has been constructing for over twenty years.
The construction of this piece employs materials and concepts familiar from the artist’s prior work. A single red elastic filament runs through the wall, threaded through copper pipes and only partially visible. The tensions created by this elastic line, holding various pieces of wood against the wall through sheer pressure, instigates a perception of materiality intermittently available to our vision. The varied forms and positions of these pieces seek stability in a complex relationship of interdependence. Each plays a decisive role in keeping the whole in balance and elicits a strange sense of vulnerability, a concept central to the artist’s work. In the description of materials used in most of her works, the artist lists time. Duration thus appears as an element determining process and imminence, conjoining interdependencies and a precarious equilibrium.
The partially fixed arrangement of a sculpture, an object, such as Guagliardi’s gravity-defying work Partitura VI (horizontal), also shown in the exhibition, confirms the artist’s focus on indeterminacy. In this piece, seven white foam balls of different sizes and seven light wooden boards are arranged in a seemingly chaotic sequence of pressure and balance. The boards are attached to the wall by delicate metal hinges, following a rhythmic pattern determined by the position of the balls. The choices arising from the position of each ball is what defines the balance of the piece as a whole, offering us a cohesive system where the sum of the tensions is translated into a dissonant harmony.
Mais do que cheia / More than full, Guagliardi’s glass object, the third piece in the exhibition, includes invisible air in the transparent interior as one of its constituent elements. The issue highlighted here by the artist relates to the expanded visibility of this glass body’s single opening to which a red latex balloon is coupled. In this series of works, the artist redeploys the glass containers that were filled with water in previous works. The object thus fullfills the objection that an empty glass, is full of air.
By using gaseous, liquid, and solid substances – including the spaces between and predetermined space-forming boundaries – to achieve their unique equilibrium, Guagliardi’s dynamic objects encourage us to transgress and extend our own limitations.
[1] Robert Kudielka: From the ‚Non-Object‘ to the Poetics of Real Spaces: Brazilian Art after Neoconcretism, Translation Steve Berg, in: Das Verlangen nach Form / O Desejo da Forma. Neoconcretismo und zeitgenössische Kunst aus Brasilien, Akademie der Künste Berlin 2010, p. 235-240, p. 238f.
Conversa com a parede | Gespräch mit der Wand
Ein Essay von Dr. Ulrike Kregel
in: fair | Magazin für Architektur und Kunst 01 / 2019
English Translation by Timothy Connell, London