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Shila Khatami | Harry Leigh | Haleh Redjaian | Erich Reusch | Elisabeth Vary | Jan Wawrzyniak
8 October 2022 – 12 November 2022
Der Mensch, sage ich dir, schafft durch Abstraktion[1]
Kunst lässt etwas noch nie Dagewesenes in Erscheinung treten. Bevor es das Kunstwerk gibt, gibt es keinen Inhalt, der „zum Ausdruck“ gebracht werden soll. Das Ereignis selbst, das im Material, in der Form, der Farbe erst hervorgerufen wird, ist der Gehalt. Kunst schlägt als sinnliches Werden, als empfindendes Denken immer wieder neu offene Stellen auf. Schöpfung und Ordnung, System und Freiheit, Tradition und Erfindung, Farbe und Form sind vielleicht denknotwendige Gegensätze, die doch immer übersprungen werden müssen. Und genau dies geschieht in der Ausstellung kajetan at valerie_traan.
Hier wird die Trennung zwischen poetischem und geometrischem Weltbezug reflektiert, korrigiert, unterminiert. Radikal und frei erproben die hier versammelten Künstlerinnen und Künstler und ihre Werke die Möglichkeiten der nicht figurativen Kunst, ihrer Souveränität, ihrer Autonomie und setzen gerade dadurch die großen Fragen, die diese Begriffe im Schlepptau haben, ins Licht.
Schon der Titel der Arbeit von Shila Khatami Damage Line verweist auf Verbindung und Bruch. Hier trifft expressive Geste auf nüchterne Reduktion, dynamisch mit der Walze aufgetragene Farbe auf transparente, luzide Farbspuren, die durch Richtungswechsel, Überlagerungen, ihren Eigenwillen, die Bildfläche in ein vielschichtiges Gebilde verwandeln, das unterschiedliche Vokabulare, ihre Tradition, ihr Ausdrucksvermögen miteinander kommunizieren lässt. Diese Malerei übertanzt scheinbare oder wirkliche Widersprüche, stellt Ambivalenzen her und trägt sie als malerisches Geschehen aus. Zugleich wird hier des Bildens eigne Kraft beleuchtet als das Ineinander von Materialität und Transzendenz, Form und Energie.
Skulptur und Zeichnung, Raum und Fläche gehen in Harry Leighs großformatigen Holzskulpturen und Assemblagen eine überraschende Liaison ein. Auch diese Arbeiten erspielen grundsätzliche Polaritäten – und die Bewegung im Dazwischen: Leichtigkeit und Schwere, Mobilität und Still, Material und Transparenz, Idee und Körper, Konstruktion und Emotion. In diesen Raumgebilden löst sich die Identität von Skulptur und Volumen. Raum ist nun nicht mehr das Jenseitige der Skulptur, sondern wird von ihr inkorporiert, konstituierender Bestandteil. Im Aneinanderfügen, im Öffnen und Schließen, im Spiel zwischen Fülle und Leere, Grazilität und Masse werden immer neue Facetten und Blickwechsel der auf den ersten Blick so einfachen Gebilde ermöglicht, eine Vielsichtigkeit, die in der Form und im Material, seiner Herkunft und im Machen erreicht wird.
Auch in der Arbeit von Erich Reusch ist der Raum ein wesentlicher Akteur und ein Aktivum, auch seine Reliefs sind ein Übergängiges zwischen Fläche und Raum. Im Anblick wenden sich die Reliefs an den Betrachter und dieser Doppelcharakter des Sehens eröffnet zugleich eine Dimension der Taktilität und des Fühlens, die das eigentümliche Paradox der Wahrnehmung überschreitet und füllt: Ganz frei und mit Verve macht Erich Reusch die uralte Reliefauffassung als ein Verhältnis der Flächenbewegung zur Tiefenbewegung und damit aus der zweiten Dimension zur dritten gegenwartstauglich. Seine Objekte führen so ganz direkt in das spannungsvolle Verhältnis von Körper und Welt, das zwischen Wahrnehmung und Tastsinn oszilliert. In ihrer Betrachtung bleibt man nie stehen, so wie auch die Anordnung der Teile als veränderliche, temporäre Anordnungen spielerisch-konstruktiv konfiguriert werden können und in den unterschiedlichen Anordnungen den Raum dehnen, zusammenziehen, lockern und konzentrieren zu vermögen.
Die feinen Zeichnungen von Haleh Redjaian verbinden Linienraster und Fläche, Farbe und Zeichnung und ihr Spiel und Widerspiel. Raster bilden Ordnungssysteme und gehören zur Kategorie der Strukturen mit regelhaften Gesetzmäßigkeiten, aus denen heraus sie sich konstituieren. Sie sind Gesetz und Erscheinung, Objekt und Konzept. Das zum Bildthema werdende Raster wurde interpretiert als Modell des selbstreferenziellen, auf nichts außerhalb seines selbst verweisenden modernen Kunstwerks, als Ort des Schweigens. Haleh Redjaian reflektiert und unterminiert diese Definition des Rasters (und der Kunst der Avantgarde). Wiederholung und Abweichung, Regel und Regelverletzung sind gleichzeitig da. Es sind gerade die geringfügigen Störungen (wie sie auch antike Teppiche oder Ornamente aufweisen), das Quentchen Widersinn und die gegenläufige Bewegung von Line und Farbfläche und ihre Überlagerungen, die Sehsprünge herstellen und die strenge Setzung in eine subtile Balance mit einer eigenwilligen Unwägbarkeit bringen.
Auch in Elisabeth Varys Bildobjekten wird ein striktes Entweder – Oder zum Entweder – Und Die Gegensätze Malerei und Objekt werden zu einer fragilen Einheit, die allerdings nicht simpel synthetisiert, sondern die jeweiligen Möglichkeiten offenhält. Farben und Formen betreten die Bühne und eröffnen ein Pingpong von Geben und Nehmen, von wechselweiser Bereicherung der unterschiedlichen Vokabulare und damit ein vielschichtiges Sehen. Die Objekte, unregelmäßig geformte stereometrische Karton-Körper, werden durch ihre farbige Akzentuierung gleichsam imaginativ aufgeladen, wobei auch die Malerei in unorthodoxer Freiheit auftritt, sich von wuchernder Fülle bis zur Monochromie ausbreiten darf, während die gebauten Objekte gleichsam eine konstruktive Verankerung des malerischen Taumels herstellen. Faktizität, Materialität und Einbildung sind – fast im Paradox – gleichzeitige Momente der Wahrnehmung: Skulptur und Farbe bilden hier vitale Metamorphosen von einem zum andern, fusionieren zu einem dynamischen Raumgebilde. Malerei trifft auf und betrifft die Skulptur, die Gattungen durchdringen sich, kommunizieren und illuminieren sich wechselweise – und ihren Raum.
Räumliche und flächige Wahrnehmung alternieren auch Jan Wawrzyniak Bildgefüge, die sich aus weißen, grauen und schwarzen Linien und Flächen aufbauen. Mit wenigen Grundelementen, mit reduzierter Palette, in der Oszillation zwischen Klarheit und Stabilität und ihrem steten Entzug. Gerade in der Reduktion auf wenige elementare gestalterische Mittel, auf Linie und geometrische Form, die in opakem Kohl-Schwarz auf dem grundierten Baumwohlgewebe schwebt, sind diese Arbeiten Grenzgänge, die die Wirklichkeit des Bildes, sein Regelwerk, sein Sehereignis ausloten. Jede Arbeit trägt das aus, wovon es handelt. Hier schließen sich Begriff und Anschauung, Rationalität und Intuition, Perspektive und A-Perspektive nicht aus, sondern sind in einem changierenden, abgründigen Verhältnis. Aus diesen Arbeiten ergeben sich Ordnungen des Sichtbaren und die Vorläufigkeit jeder Ordnung – immer wieder neu. Die Sicherheit der Geometrie wird in der Betrachtung aufgebrochen, die einfache Form ist im Gegenzug zu der Komplexität ihrer Erfahrung. Intensität muss nicht melodramatisch sein.
In dieser Ausstellung werden die Bedingungen des Erscheinenden zu einem Abenteuer des Sehens, machen ein sehendes Sehen möglich und wirklich.
Dorothée Bauerle-Willert
[1] Paul Valéry, Eupalinos, or the Architect, in: The collected Works of Paul Valéry, Vol. IV, Princeton 1956, p. 121
Man, I assert fabricates by abstraction[1]
Art makes something unprecedented appear. Before the work of art exists, there is no content to be „expressed“. The event itself, which is first evoked in the material, in the form, in the colour, is the content. Art, as sensual becoming, as sentient thinking, always opens up new openings. Creation and order, system and freedom, tradition and invention, colour and form are perhaps opposites that are necessary for thinking, but which must always be overcome. And this is precisely what happens in the exhibition kajetan at valerie_traan.
Here, the separation between poetic and geometric reference to the world is reflected, corrected, undermined. Radically and freely, the artists gathered here with their works test the possibilities of non-figurative art, its sovereignty, its autonomy, and precisely by doing so, they put into the light the big questions that these concepts have in tow.
Even the title of Shila Khatami’s work Damage Line refers to connection and rupture. Here, expressive gesture meets sober reduction, dynamically roller-applied paint meets transparent, lucid traces of colour, which, through changes of direction, overlaps, their own will, transform the picture surface into a multi-layered structure that allows different vocabularies, their tradition, their expressive capacity to communicate with each other. This painting overdances apparent or real contradictions, creates ambivalences and carries them out as painterly events. At the same time, the inherent power of painting is illuminated here as the interplay of materiality and transcendence, form and energy.
Sculpture and drawing, space and surface enter into a surprising liaison in Harry Leigh’s large-scale wooden sculptures and assemblages. These works also play on fundamental polarities – and the movement in the in-between: Lightness and heaviness, mobility and stillness, material and transparency, idea and body, construction and emotion. In these spatial structures, the identity of sculpture and volume dissolves. Space is no longer the other side of sculpture, but is incorporated into it, a constituent component. In the joining together, in the opening and closing, in the play between fullness and emptiness, gracefulness and mass, ever new facets and changes of view are made possible for the structures that are so simple at first glance, a multi-vision that is achieved in the form and in the material, its origin and in the making.
In Erich Reusch’s work, too, space is an essential actor and an asset; his reliefs are also a transition between surface and space. In the sight, the reliefs turn to the viewer and this double character of seeing simultaneously opens up a dimension of tactility and feeling that transcends and fills the peculiar paradox of perception: Quite freely and with verve, Erich Reusch makes the ancient conception of relief as a relationship of surface movement to depth movement, and thus from the second dimension to the third, suitable for the present. His objects thus lead directly into the tense relationship between body and world, which oscillates between perception and the sense of touch. In their contemplation, one never stands still, just as the arrangement of the parts can be playfully-constructively configured as changeable, temporary arrangements, and in the different arrangements are capable of stretching, contracting, loosening and concentrating the space.
Haleh Redjaian’s fine drawings combine line grids and surface, colour and drawing and their play and contradiction. Grids form systems of order and belong to the category of structures with regular regularities from which they are constituted. They are law and appearance, object and concept. The grid, which becomes the subject of the picture, was interpreted as a model of the self-referential modern work of art that refers to nothing outside itself, as a place of silence. Haleh Redjaian reflects and undermines this definition of the grid (and of avant-garde art). Repetition and deviation, rule and rule-breaking are there simultaneously. It is precisely the minor disruptions (as also found in antique carpets or ornaments), the modicum of contradiction and the contrary movement of line and colour surface and their superimpositions that create visual leaps and bring the strict setting into a subtle balance with an idiosyncratic imponderability.
In Elisabeth Vary’s pictorial objects, too, a strict either-or becomes an either-and. The opposites of painting and object become a fragile unity, which, however, does not simply synthesise but keeps the respective possibilities open. Colours and forms enter the stage and open up a ping-pong of give and take, of alternating enrichment of the different vocabularies and thus a multi-layered seeing. The objects, irregularly shaped stereometric cardboard bodies, are, as it were, imaginatively charged by their colourful accentuation, whereby the painting also appears in unorthodox freedom, is allowed to spread out from proliferating abundance to monochrome, while the built objects, as it were, create a constructive anchoring of the painterly frenzy. Facticity, materiality and imagination are – almost in paradox – simultaneous moments of perception: sculpture and colour here form vital metamorphoses from one to the other, fusing into a dynamic spatial structure. Painting meets and affects sculpture, the genres interpenetrate, communicate and illuminate each other alternately – and their space.
Spatial and planar perception also alternate in Jan Wawrzyniak’s pictorial structures, which are built up from white, grey and black lines and surfaces. With few basic elements, with a reduced palette, in the oscillation between clarity and stability and their constant withdrawal. Precisely in the reduction to a few elementary creative means, to line and geometric form, which floats in opaque charcoal black on the primed cotton fabric, these works are borderline passages that probe the reality of the picture, its set of rules, its visual event. Each work expresses what it is about. Here, concept and view, rationality and intuition, perspective and a-perspective are not mutually exclusive, but are in an oscillating, abysmal relationship. Orders of the visible and the provisionality of every order emerge from these works – always anew. The certainty of geometry is broken up in contemplation, the simple form is in contrast to the complexity of its experience. Intensity need not be melodramatic.
In this exhibition, the conditions of appearance become an adventure of seeing, make seeing possible and real. Dorothée Bauerle-Willert
[1] Paul Valéry, Eupalinos, or the Architect, in: The collected Works of Paul Valéry, Vol. IV, Princeton 1956, p. 121