Olaf Holzapfel : Sofia Hultén : Jürgen Klauke : Bruce Nauman : Wolfgang Plöger : Katharina Sieverding : Trine Søndergaard : Johannes Wald
Organized by Daniel Marzona | 3 February – 13 April 2024
Das Foto einer Küchenschublade flankiert von vier Seiten Text, der den Inhalt der Schublade forensisch analysiert – so kann ein Selbstportrait aussehen, wenn sich Sofia Hultén dem Thema widmet.
Zwei großformatige Tafeln, die Katharina Sieverding zu einem Diptychon arrangiert hat, zeigen jeweils ein identisches Gesicht. Deren Konturen durchdringen einen an fließende Lava erinnernden Hintergrund und verweisen auf eine untergründige Dynamik und konstante Veränderbarkeit der personalen Identität der Dargestellten.
Zwei frontal aufgenommene Portraitaufnahmen von Jürgen Klauke in weißem Hemd und mit schwarzer Krawatte, einmal mit lächelnder und einmal mit aggressiv-undurchdringlicher Mimik, bilden jeweils sechsmal wiederholt einen Block. Überschrieben ist jedes Foto mit einem Wort, das vermeintlich zu seiner näheren Bestimmung beiträgt: Heiliger, Mörder, Schwachsinniger, Polizist, Soldat, Beamter, Artist, etc. Das Werk trägt den schönen Titel ‚Das menschliche Antlitz im Spiegel soziologisch-nervöser Prozesse‘, der den scheinbar humorvoll-harmlosen visuellen Befund nachhaltig in Vibrationen versetzt.
Die einfachen, oftmals in monatelanger Handarbeit polierten Spiegel von Johannes Wald sind allesamt (Untitled/Stade de miroir) betitelt und dehnen den Moment der kindlichen Selbsterkenntnis in seine und unsere unmittelbare Gegenwart aus und deuten damit die Notwendigkeit einer kontinuierlichen Überprüfung des kindlichen Befundes an.
So unterschiedlich und komplex die beschriebenen Arbeiten mit dem Thema des Selbst, der Identität umgehen, so alt ist die Frage, die sich in ihrer Betrachtung stellt: Was ist das Ich? Handelt es sich um einen als gegeben und fixiert zu betrachtenden Bezugsrahmen, der es dem Individuum erlaubt, sich im gesellschaftlichen Umfeld zu verorten und sich so einen stabilen Zugang zur äußeren Welt zu organisieren? Oder ist der Bezugsrahmen, den wir als unser Selbst begreifen, nichts weiter als eine bequeme Illusion und gleichsam abhängig von diversen Kontexten, in denen wir unser fluides Ich ausbilden, anpassen und stetig verändern? Sind wir uns also in dem Sinne fremd, als dass wir uns in jedem Moment ein anderer sein könnten?
Von Leibniz über Descartes zu Kant führt eine Linie der Philosophiegeschichte zu einer immer weiter präzisierten Vorstellung von den Kapazitäten und Bedingungen eines als notwendig angenommenen und gesetzten Subjektes. Im Idealismus des 19. Jahrhundert wurde aus dem Subjekt dann eine dialektisch gedachte Größe, in der zwar das individuell Besondere und das Allgemeine zusammenfließen, die aber dennoch als Fixpunkt aller Erkenntnis unabdingbar schien. Trotz erster Risse im Subjekt bei Pascal, Voltaire und anderen dachte sich so die Moderne die längste Zeit den Menschen. Bis eine sich rasant verändernde Lebenswelt schließlich zu gedanklichen Ansätzen – beginnend mit Nietzsche und kulminierend bei Foucault – führte, in denen sich das Subjekt/Ich vollkommen auflöst und verzichtbar erscheint. In der Literaturgeschichte der Moderne lässt sich eine vergleichbare Entwicklung über Balzac bis hin zu Joyce, Beckett und Sarraute aufzeigen, in der das Ich als gesicherter Bezugspunkt einer verlässlichen Welterzählung immer weiter ausfranst. Es spricht nun nicht einmal mehr der/die Autor/in sondern die Sprache (Roland Barthes).
Die bildende Kunst blieb in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts an der weiterführenden Interpretation des Subjektdiskurses nicht unbeteiligt, wenngleich dies mit den ihr üblichen Ambivalenzen und einer vergleichsweise ‚zarten‘ Zurückhaltung geschah. Im Umfeld von Dada und Surrealismus war Marcel Duchamp vielleicht der Künstler, der das Ich als urteilende Instanz am konsequentesten zur Disposition stellte. Er sah die Kunst insgesamt als ein Feld an, das in idealer Weise geeignet war, sich widersprechende Konzeptionen des Selbst simultan zu erproben und damit jede Form von Selbstgewissheit zu verflüssigen.
Nach einer Gegenposition braucht man nicht lange zu suchen, denkt man nur an Jackson Pollocks leicht naiv wirkendes Bekenntnis: ‚Malerei ist Selbstentdeckung. Jeder gute Maler malt, was er ist.‘ Spätestens seit den 1960er Jahren war es dann neben der Literatur vor allem die bildende Kunst, die zahlreiche Diskurse, die sich um Fragen von Subjekt und Identität rankten, immer feiner ausdifferenzierte und wesentliche Impulse zur Ausformulierung postmoderner Theoriebildung lieferte.
Zu unserer Ausstellung zurückkehrend lässt sich festhalten, dass die hier versammelten Arbeiten in ihrer Gesamtheit weder einen Kanon noch eine gemeinsame Haltung offenbaren. Stattdessen kommt in ihnen aus jeweils spezifischer Perspektive die ewige Frage nach dem Selbst zum Widerhall. In gewisser Hinsicht gehören alle hier versammelten Arbeiten der jüngsten Vergangenheit an, da sie weder von der Radikalität der unsere Gegenwart prägenden Medienrevolution noch von aktuellen Entwicklungen auf dem Gebiet der Neurophysiologie Kenntnis haben konnten. Die quantensprunghaften Fortschritte im Bereich der Implementierung von Ergebnissen der künstlichen Intelligenzforschung blieb ihnen ebenfalls verborgen. Ohne Zweifel werden die genannten Entwicklungen die Diskurse zu Identität, Selbst und Subjekt nochmals deutlich zuspitzen und aus völlig neuartigen Gründen dringlich werden lassen. Mit Walter Benjamin lässt sich allerdings insistieren, dass es gerade die Auseinandersetzung mit dem jüngst Vergangenen ist, die ein klares Bewusstsein für die Herausforderungen der Gegenwart schärft. Von Rimbaud stammt das geflügelte Wort ‚Je est un autre‘. Generationen haben es seither nicht vermocht, den vermeintlichen Verlust, der sich in der Erkenntnis des Ich als eines anderen zu verbergen scheint, positiv zu wenden. Und dies, obwohl Kunst, Literatur und Theorie verschiedenste Modelle zur Bewältigung der Krise des Subjektes erdacht und erarbeitet haben. Die Hoffnung bleibt, dass es uns in dem Maße, in dem wir uns selbst zukünftig als die uns anderen zu akzeptieren lernen, es uns gleichsam gelingen mag, das uns andere wie uns selbst zu betrachten. Das beschriebe dann wohl eine der wünschenswerten Konsequenzen einer Utopie des Nicht-Identischen.
Daniel Marzona im Januar 2024
A photograph of a kitchen drawer flanked by four pages of text that forensically dissect the contents of the drawer – this is what a self-portrait looks like when Sofia Hultén tackles the subject. Two large-format panels, which Katharina Sieverding has arranged as a diptych, each depict an identical face. The shape and contour lines of the faces permeate a background reminiscent of a lava flow and refer metaphorically to an underlying dynamic and signify the constant flux of the sitter’s personal identity. Two frontal portraits of Jürgen Klauke wearing a white shirt and black tie, in which he is either smiling or scowling inscrutably, are repeated six times to make up a block. Each photograph is succinctly captioned with a word that purportedly defines its content more closely: saint, murderer, idiot, policeman, soldier, civil servant, artist, etc. Klauke gave his work the beautiful title Das menschliche Antlitz im Spiegel soziologisch-nervöser Prozesse (‘The Human Face in the Mirror of Socio-nervous Processes’), which lends the seemingly humorous and harmless visual evidence an enduring, ironic spin.
Johannes Wald’s simple mirrors, often polished by hand over a period of months, are all titled Untitled/Stade de miroir (‘Untitled/Mirror Stage’) and extend the moment of childlike self-awareness into his and our immediate present, thereby indicating the necessity of an ongoing examination of the child’s findings. Just as the treatments of the theme of the self/identity in the works described are different and complex, so too is the antiquity of the question that arises in their engagement with the subject: what is the self? Is it a frame of reference that can be regarded as given and fixed, which allows the individual to situate themselves in their social environment and thereby organize a stable access to the outside world? Or is the frame of reference that we understand as our ‘self’ nothing other than a convenient illusion and more or less dependent on various contexts in which we form, adapt and constantly change our fluid selves? Are we thus strangers to ourselves, insofar as we could be someone else at any given moment?
A line can be traced in the history of philosophy from Leibniz via Descartes to Kant that leads to an increasingly precise idea about the capacities and conditions of a deemedly necessary and fixed subject or self. Within the scope of the nineteenth-century idealism, the subject was indeed conceived dialectically as a whole entity, in which the individually particular and the general coalesced, but which nevertheless seemed indispensable as the constant of all phenomenology. Despite the first cracks – courtesy of Pascal, Voltaire et al – appearing in the subject’s edifice, it nevertheless endured as modernity’s conception of man. Until, that is, a rapidly changing world finally inaugurated other intellectual approaches, beginning with Nietzsche and culminating in Foucault, in which the subject/ego completely dissolves and ultimately appears to be dispensable after all. In the literary history of modernism, a comparable development can be traced via Balzac to Joyce, Beckett and Sarraute, in which the self as a secure point of reference for a reliable universal narrative becomes increasingly threadbare. It is not even the author who now has a voice, but language itself. (Roland Barthes.)
During the first half of the twentieth century, the visual arts were also again involved in the further interpretation of the discourse on the subject as a thing, even if this was conducted with customary ambivalence and comparatively ‘insouciant’ reticence. In the context of Dada and Surrealism, Marcel Duchamp was perhaps the sole artist who most consistently challenged the idea of the self/ego as an authority capable of making judgements. He viewed all art as a field ideally suited to simultaneously exploring contradictory conceptions of the self and thereby the dilution of any form of self-certainty. Nor do you have to look far for a counter-position: just think of Jackson Pollock’s seemingly somewhat naïve confession: ‘Painting is self-discovery. Every good artist paints what he is.’ Since the 1960s at the latest, the visual arts in particular, in tandem with literature, have approached numerous discourses revolving around questions of the subject/the self and identity with increasing nuance and have significantly catalysed the shaping and formulation of postmodern theory.
Returning to our exhibition, it is evident that the works assembled here in toto showcase neither a canon nor a shared, common approach. Instead, the eternal question of the self is echoed in each one of them from a specific, individual perspective. In a sense, all the works collected here belong to the recent past, inasmuch as they do not reflect an awareness of the radical and ongoing nature of the media revolution transforming our present, nor do they encompass current developments in the field of neurophysiology. They also do not reflect the quantum leap in the wide-ranging implementation of AI research and its outcomes. There is no doubt that the aforementioned developments will once more significantly energise the discourse on identity, the self and the subject and render it both urgent and compelling for a number of completely new reasons. However, what we must now insist upon – in keeping with Walter Benjamin’s adjuration – is the very engagement with the recent past that hones a clear awareness of the challenges of the present. Rimbaud coined the dictum ‘Je est un autre’; generations since then have been unable to turn the supposed deficit purportedly embedded in Rimbaud’s dictum of the self as the other into a positive. And all this is in spite of the fact that art, literature and theorical inquiry across the board have devised and developed the most diverse models for coming to terms with the crisis of the subject. However, the hope abides that the extent to which we can learn to accept ourselves as the other in the future may actually help us succeed in viewing the other as ourselves. This would then adumbrate one of the desirable consequences of a utopia of the nonidentical.
Daniel Marzona, January 2024 Translated from German by Timothy Connell (London)