Form follows Fiction

10 November 2018 – 27 January 2019

Anneke Kleimann
Marc Nagtzaam
Trine Søndergaard
Jan Wawrzyniak

Fotos: © Marcus Schneider

In der Mitte des 19. Jahrhunderts erschien eine Sammlung theoretischer Schriften des amerikanischen Bildhauers Horatio Greenough, mit der er zu einem wichtigen Impulsgeber für das Verhältnis von Form und Funktion wurde. Seine berühmte Formulierung Form follows Function wurde etwas später von Louis Sullivan und in der Folge insbesondere am Bauhaus wieder aufgegriffen, wo sie gerade mit dem „Verzicht auf jegliches Ornament“ eine entscheidende Umakzentuierung erfuhr.

Das hieraus abgeleitete Wortspiel Form follows Fiction, das der Ausstellung ihren Titel gibt, negiert die Funktion zugunsten der Erfindung, der Einbildungskraft und der reinen Annahme und folgt dennoch dem am Bauhaus entwickelten Gedanken einer ökonomisierten Formgebung. Eingeladen wurden Künstlerinnen und Künstler mit sehr unterschiedlichen und ausgeprägten eigenen Sichtweisen, die sie bereits nachhaltig bestätigt haben, deren Arbeiten sich aber auch durch Komplexität und Präzision der Form auszeichnen.

In the mid-19th century, the American sculptor Horatio Greenough published a collection of theoretical texts which made him an important catalyst in the discussion of the relationship between form and function. His famous maxim, Form follows Function, was soon taken up by Louis Sullivan and later especially at the Bauhaus, where it experienced a decisive refocussing with the „renouncement of any ornament“.

Form follows Fiction, a word play that gives the exhibition its title, negates function in favor of invention, imagination and pure presumption, while still following the concept of economical form developed at the Bauhaus. Invited were artists with different and distinct personal perspectives, whose work is also characterized by complexity and precision of form.

Anneke Kleimann präsentiert zwei Transformationsarbeiten, die in ihrer synästhetischen konzeptuellen Klarheit zu einer vielsinnigen Wahrnehmung einladen.

Swing, Turn, Delivery, Recovery, ein Diskus oder eine Art Kreisel oder beides, fliegt eher nicht. Das Objekt kann aber durch einen Luftstoß oder eine Berührung ins Taumeln geraten und beschreibt einen Kreis. Es verkörpert die Erinnerung an eine Bewegung und eine potentielle Aktion im Raum.

Welle, konvertiert verstofflicht eine 57/1000 Sekunde des Klanges der Nordsee. Ausgehend von einer Soundaufnahme der Nordsee, wird ein Partikel der Tonspur in Objektform materialisiert. Hier schließt sich die Wirklichkeit der Tonerzeugung dem Spiel der Realfiktionen [1] in einem anderen Sinnbereich an. Das Meeresrauschen als Tonspur auf dem Bildschirm, eine wissenschaftliche Untersuchung, wird von Kleimann perspektivisch in eine von der Decke hängende Skulptur überführt.

In einem sich kontinuierlich ereignenden Perspektivwechsel der Sinne gehören Kleimanns Arbeiten in den Bereich bildhauerischer Forschungsarbeit. Sie führen eine rein wissenschaftliche Perzeption, aus der sie meistens ihren Stoff beziehen, durch Transformation wieder zurück auf ein unvoreingenommen forschendes Sehen, Tasten, Hören und Denken.

[1] Von Realfiktionen spricht Anneke Kleimann in ihrem Artist Statement.

Anneke Kleimann presents two Transformationsarbeiten (Transformation Works) whose synaesthetic conceptual clarity invites a multi-sensorial experience.

Swing, Turn, Delivery, Recovery, a discus or spinning top of sorts, or both, doesn’t really fly. But a gust of air or touch can cause the object to sway and describe a circle. It embodies the memory of a movement and a potential action in space.

Welle, konvertiert (Wave, Converted) embodies 57/1000th of a second of the sound of the North Sea. Starting from a recording of the North Sea, a particle of the audio track is materialised in object form. Here, the reality of sound generation joins the play of ‘real fictions’ [1] in another sensory realm. Kleimann perspectively transposes the sound of the sea as audio track on screen – a scientific exploration – into a sculpture suspended from the ceiling.

In their constantly shifting sensorial perspective, Kleimann’s works belong to the realm of sculptural research. Through transformation, they lead a purely scientific perception (from which they usually draw their material) back to an impartially exploratory seeing, touching, hearing, and thinking.

[1] Anneke Kleimann speaks of “real fictions” in her artist statement.

Swing, Turn, Delivery, Recovery (2015, Glasfaserlaminat, Lack, 40 x 100 x 100 cm)

Welle, konvertiert, 1:27.88-1:27.8857 (2015; Glasfaserlaminat, Pigment, Nylonschnur; 0,4 x 133 x 35 cm)

Fotos: © Marcus Schneider

Marc Nagtzaams geometrische Zeichnungen basieren auf Collagen von aus Zeitschriften gesammelten Bildern. Nach einer gezielten Auswahl werden sie in unregelmäßigen, unbestimmten Gittern angeordnet, fotokopiert und anschließend nachgezeichnet, so dass nur die angrenzenden, geradlinigen Konturen erhalten bleiben, wodurch der Inhalt der collagierten Bilder effektiv zerstört wird. Die uneindeutigen Raster weisen ein Muster auf, das heterogen genug ist, um auf ein fiktionales Organisationsprinzip hinzudeuten, während ihre Eigenheit die Raster davon abhält, wiederum in die Anonymität der grafischen Sprache der Zeitschrift aufgenommen zu werden.

Die gezeigten Arbeiten sind eigens für diese Ausstellung vom Künstler neu arrangiert und installiert worden. Nagtzaam betrachtet eine Ausstellung als mögliches Werk, weshalb er bei jeder Neuinstallation Wert auf eine jeweils andere Qualität legt. Der von ihm beim Zeichnen verwendete strukturelle Ansatz spiegelt sich so gesehen auch in der Ausstellungsstruktur wider, die als vergrößerte Zeichnung im Raum betrachtet werden kann.

Marc Nagtzaam’s geometric drawings are based on collages of images collected from magazines. Following a targeted selection process, they are organised into irregular, undefined grids, photocopied, and then traced, so that only the bordering, rectilinear contours are preserved, effectively destroying the content of the collaged images. The ambiguous grids reveal a pattern that is heterogeneous enough to point to a fictional organising principle, while the singularity of the grids in turn prevents them from being absorbed into the anonymity of the magazine’s graphical language.

The artist has newly arranged and installed the works presented here especially for this show. Nagtzaam sees an exhibition as a potential work, which is why, for each new installation, he attaches great importance to always emphasising a different quality. Seen in this way, his structural approach to drawing is also reflected in the structure of the exhibition itself, which can be seen as an enlarged drawing in space.

To Imagine an Aesthetics of Repetition, 2018, 55,5 x 41,5 cm, Bleistift auf Papier

Zeichnungen, 2015, 43 x 27 cm, Risodruckunikat

Always Crashing in the Same Car, 2016, 55 x 68 cm, Bleistift auf Papier

Early Recordings, 2011, 41,2 x 31,9 cm, Bleistift auf Papier

Trine Søndergaards auf Föhr entstandene Fotografien Surrigkap aus ihrer Serie Dress of Mourning (2015-2016) zeigen die Verhüllung in gestochener Schärfe als eine Bedingung des (eigenständigen) Sehens. Das jeweilige Modell, wenn man es so nennen will, entzieht sich in diesen Arbeiten dem Betrachter, scheint sich zu verstecken.

In diesen Fotografien macht die Verschleierung, das Unsichtbare etwas sichtbar. Søndergaards Fotoarbeiten bringen den toten Winkel, den blinden Fleck des Sehens, etwas im Zeitalter von Instagram, Facebook, Twitter & Co. mittlerweile allzu oft Übersehenes ans Licht.

Einerseits erinnern sie daran, dass das sich dem Blick Entziehende, das Verschleiern in jeder Kultur sowie mehr als einer Religionszugehörigkeit vorkommt. Andererseits verweisen sie wie beiläufig auf die Fiktion eines unverhüllten Blicks, der vor allem blind macht, einen Nullpunkt, von dem sie ihren Ausgang nehmen.

Trine Søndergaard’s Surrigkap photographs from her series Dress of Mourning (2015-2016), taken on the island of Föhr, reveal concealment in piercing clarity as a prerequisite for (independent) seeing. In these works, the respective model (if we want to call it that) eludes the viewer, seemingly hiding.

In these photographs, concealment makes the invisible somewhat visible. Søndergaards photographic works bring the blind spot of seeing – something that is overlooked all too often in the age of Instagram, Facebook, Twitter, & Co. – to light.

On the one hand, they remind us that eluding sight, concealment, occurs in every culture as well as in more than one religion. On the other, they almost incidentally point to the fiction of naked seeing, which makes us blind above all – a zero point from which they originate.

Surrigkap #I, Dress of Mourning, 2016, 110 x 110cm, AP, Pigmentdruck

Surrigkap #II,  Dress of Mourning, 2016, 110 x 110cm, ed 5/5, Pigmentdruck

Surrigkap #III, Dress of Mourning, 2016, 110 x 110cm, ed 5/5, Pigmentdruck

Jan Wawrzyniak zeigt ein mit Kohle gezeichnetes Bild aus der Reihe Eccentric Construction (2016), das aus zwei unregelmäßig geformten Tafeln zusammengesetzt ist, auf denen wiederum drei irreguläre Flächen sichtbar sind, die sich aneinander, in der Differenz von Bezeichnetem und Unbezeichnetem, formen. Im Verhältnis dieser Flächen zueinander sowie in der Relation der Flächen zu den differenten Außenformen konstituiert sich eine fiktive Ordnung überschaubarer Teile von widerständiger Wertigkeit, die offen instabil bleibt. Was sich zeigt, ist ein zugleich konsistentes und inkonsistentes Miteinander der Bildelemente, die im freien Spiel Verbindungen eingehen, die sich ebenso als evident wie als uneindeutig und labil erweisen und sich zu einem Ganzen fügen, das jeder abschließenden Betrachtung widerspricht. Das Bild entzieht sich in seiner Präsenz. Es bleibt unverfügbar, adressiert sich als kritisches Gegenüber an den Betrachter und wird letztlich zum Spiegel der eigenen Existenz.

Jan Wawrzyniak presents a charcoal drawing from the series Eccentric Construction (2016), which combines two irregularly shaped panels, on which, in turn, three irregular surfaces can be seen whose shapes arise from the difference between the marked and unmarked. The relationship of these surfaces to one another as well as their relation to the various external shapes creates a fictive order of well-structured parts of oppositional value, which remains openly unstable. What emerges is an at once consistent and inconsistent coexistence of pictorial elements, which form connections that in turn prove to be simultaneously evident and ambiguous and unstable, and which come together to form a whole that contradicts every conclusive interpretation. The image eludes itself in its presence. It remains unavailable, addresses the viewer as a critical counterpart, and, finally, becomes a mirror of the viewer’s own existence.

Eccentric Construction (16006), 2016, zweiteilig, gesamt ca.170 x 230 cm, Kohle auf grundiertem Baumwollgewebe

Foto: © Marcus Schneider

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gallerytalk.net Kunstgriff Berlin

Lynn Kühl: Interview mit dem Galeristen / with the gallery owner Tobias Posselt